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Die vielleicht spannendsten Längen der Filmgeschichte

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schilf.jpg„Alles, was denkbar ist, existiert“- davon ist zumindest Sebastian Wittig überzeugt. Fieberhaft arbeitet der Physikprofessor am Beweis seiner Theorie. Unterdessen verschwindet sein kleiner Sohn Nick von einer Autobahnraststätte, und ein mysteriöser Anrufer fordert Wittig auf, einen Mord zu begehen.
Regisseurin Claudia Lehmann gelingt es in „Schilf“, Juli Zehs genialen Thriller ebenso genial auf die Leinwand zu bannen. Die Story zweier befreundeter Physiker mit Widerstreitenden Theorien und Lebenseinstellungen erzählt sie geradeheraus und ohne viel Psychologisieren. Die fesselnde Spannung des Films entspringt aus den sorgfältig komponierten Wechseln zwischen den parallelen Welten, die Protagonist Wittig zunächst herbeitheoretisiert – und sich dann in sie verstrickt. Angst vor möglichen Entführern seines Sohnes und vor der Unmöglichkeit, sich mit seiner Theorie verständlich zu machen, lassen ihn dessen Verschwinden zunächst auch gegenüber seiner Frau verschweigen. Als diese aus dem Urlaub zurückkehrt und sie beide schließlich die Polizei verständigen, findet sich Klein-Nick wohlbehalten im Ferienlager wieder. Allerdings habe er geschlafen, „und dann war ich hier“.

Spätestens hier ist eine zweite Ebene im Film deutlich. Während die übrigen Protagonisten jeweils in einer Welt verankert erscheinen, hat Wittig offenbar Erinnerungen aus mehreren Paralleluniversen. Für den Zuschauer erscheint dies in der Bildsprache wie eine Psychose oder „einfach Überarbeitung“, wie seine Frau die peinliche Episode mit dem gar nicht verschwundenen Sohn kommentiert. Doch über diesen Schein normaler Verrücktheit legt die Regisseurin einen Schleier aus wohldosierten Filmeffekten – dünne Gegenstände, die sich als Trennlinie vor dem Hintergrund auflösen, Straßenmarkierungen unter dem vorwärts drängenden Auto, die mit englischsprachigen Bandaufnahmen zum Stroboskopeffekt hinterlegt werden, aber auch die üblichen Mittel des Thrillers.

Steht Klein-Nick noch neben seiner Mutter auf dem Bahnsteig, als Wittig in selbstberuhigender Tapferkeit seine Lieben verabschiedet? (Man weiß es nicht.) Und wie nahe wird Wittig der geheimnisvolle Schilf kommen, der ihm immer an den Übergängen zwischen den Welten begegnet? Gegen Ende des Films sehen sich beide in die Augen. Schilf offenbart Wittig seine Identität und endlich auch das Geheimnis hinter Entführung, nicht begangenem Mord und der Auseinandersetzung mit Freund Oskar über die Existenz der Paralleluniversen. In dieser Szene entfaltet sich die Poesie dieses Films zu voller Pracht. Schilf kommt Wittig näher, er geht in eindringlichem Reden auf den anderen zu und sie beginnen, wie im Kampf Kreise umeinander zu drehen. Doch, soviel darf man vorausnehmen: Schilf zieht keine Pistole, um in Hollywood-Manier dem Zuschauer einen Höhepunkt des Grauens zu bereiten. Er blickt – starr und seiner Mission bewusst – in Wittigs Augen, und diese blicken suchend, zweifelnd, aber kaum noch ängstlich zurück. Nach Hollywood-Maßstab hat „Schilf“ beträchtliche Längen. Man kann aber auch sagen, er hat eine eigene Sprache. Und die inszeniert perfekt die Komplexität des Sujets und lässt echte Spannung entstehen. Die vielleicht spannendsten Längen seit „Spiel mir das Lied vom Tod“.


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